Als ich anfange fachspezifische Literatur zu lesen (Asperger, hochfunktioneller Autismus, Autismus bei Frauen) purzelt mein Glücksempfinden recht flott Richtung null – oje, damit habe ich tatsächlich Schwierigkeiten - huch - in dieser Hinsicht bin ich wirklich anders - wie traurig - das habe ich auch so erlebt, usw.
Ehrlich, oft schadet es mehr als es hilft. Immerhin bin ich seit 40 Jahren so wie ich eben bin. Mit Tiefs und Hochs, Hochs und Tiefs.
Was mir sehr unmittelbar hilft sind die Erzählungen echter Menschen. Katrin Bentley zum Thema Partnerschaft, Rudy Simone zum Thema Asperger bei Frauen, Silke Bauerfeind für die vielen Beiträge auf Ellasblog, die Blog-Einträge auf DifferentPlanet, Tony Attwood und Michelle Garnett für ihren reichen Erfahrungsschatz als Therapeuten und die lebhafte Art zu erzählen und natürlich meine eigenen Erfahrungen.
Auch über einige Seltsamkeiten stolpere ich ... zum Beispiel... Glück oder Freude und Autismus wird selten in Zusammenhang gebracht. Du kannst über Autismus 1000 Suchanfragen stellen, aber wenn du nach Freude oder Glück suchst, sind die Ergebnisse auf der Suchmaschine deiner Wahl plötzlich sehr überschaubar.
„Lange hat man sich ja vor allem darum gesorgt, dass Menschen mit Autismus in Schule, Beruf und Alltag irgendwie zurechtkommen, und das ist und bleibt immens wichtig. Aber immer mehr zeigt sich doch, dass das nicht genug ist, dass ein „Funktionieren“ eben nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit Lebenszufriedenheit, und dass Menschen mit Autismus in manchen Bereichen andere Bedürfnisse haben als andere Menschen, um glücklich zu sein."
Diesen Text finde ich in einem Artikel über das Buch „Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus" von Dr. Christine Preißmann. Oha. Mich freut es zum einen das Christine Preißmann dieses Thema aufgreift und zum anderen stimme ich vollkommen mit ihr überein, was diese Erkenntnis betrifft:
„Im Erwachsenenalter dagegen haben die meisten Menschen mit Autismus den starken Wunsch, sich nicht mehr länger anpassen zu müssen, sondern so sein zu dürfen, wie sie sind, weil sie merken, dass alles andere zu viel Stress bedeutet, und weil sie ihr Lebensglück in diesem Lebensabschnitt eher über eine größtmögliche Individualität definieren. Viele Betroffene beschreiben, dass der Druck, sich altersgemäß zu verhalten, mit der Zeit geringer und das eigene Verhalten authentischer wurde. Dies wird von zahlreichen erwachsenen Menschen mit Autismus als das größte Glück ihres Lebens beschrieben. Sie brauchen Unterstützung dabei, ihre Individualität zu leben und den für sie passenden Lebensentwurf zu finden. Das Ziel dabei ist dann eben nicht die „Normalisierung“, also die Fähigkeit, nicht aufzufallen, sondern es geht darum, ein für die eigene Person passendes Leben zu führen."
Auch in meiner Praxis für kleines Glück verändere ich den Blickwinkel, weg von Diagnosen und Gutachten, hin zu der Persönlichkeit, dem Charakter und der Lebensentwurf eines Menschen.
Ich bin Spätdiagnostiziert, mein Partner ebenfalls, vier Jahrzehnte unseres Lebens war es uns ein Rätsel, warum wir uns von den Mitmenschen unterscheiden, warum unsere Wahrnehmung, unsere Handlungen, unsere Gedanken, ja unser gesamtes Leben anders ist, warum wir das Überschaubare, Sinnvolle und Ordentliche lieben und es die einfachen Dinge sind, die uns soviel Freude bereiten:
- ein einzelnes wohlausgesuchtes Geschenk unter dem Weihnachtsbaum,
- ein Tag in der Natur,
- eine Stunde im Wald,
- ein Spaziergang unterm Sternenhimmel,
- ein Moment der Ruhe und Stille,
- ein Mensch der wirklich zuhört,
- eine ehrliche Rückmeldung,
- eine Mahlzeit, alleine auf der Parkbank sitzend zu mir genommen,
- eine Umarmung,
- eine Tasse Tee in friedlicher Atmosphäre getrunken,...
Mittlerweile gehe ich sogar soweit Themen wie Freude, Glück und Lebenszufriedenheit in den Mittelpunkt meiner eigenen Praxis zu stellen. Was bereitet mir Freude? Welche Glücksmomente erlebe ich? Mit wem teile ich sie? Was macht mich besonders? Welche Fähigkeiten schlummern in mir? Wann und wo fühle ich mich wohl? Welche Hoppalas passieren mir? Wie gehe ich damit um? Welche besonderen Bedüfnisse habe ich? Gibt es Bereiche in denen Hilfe und Unterstützung sinnvoll ist?
Meiner Beobachtung nach sind Hoch- oder Hypersensibilität und hochfunktioneller Autismus eng miteinander verbunden. Gleichzeitig ist die Hochsensibilität, die detailierte, feine und facettenreiche Wahrnehmung ein Glück und ein Segen. Ich besitze die Gabe mich oft stundenlang mit einer einzigen Sache zu beschäftigen. Ich sitze eine gefühlte Ewigkeit in der Wiese, um die Makroaufnahme eines Gänseblümchens zu optimieren. Ja und? Ich verbringe einen ganzen Vormittag damit Mohnudeln mit Sauerkraut zuzubreiten – dabei darf mich niemand stören und schon garnicht die angebliche Unordnung in der Küche beseitigen – genau so ist es!
Genau diese Glücksmomente, die unscheinbaren Freuden, diese angeblichen Seltsamkeiten machen mein Leben so besonders!
